Mit dem Fahrrad durchs Atombombentestgelände

Kasachstan, September 2018

Da es zu diesem Thema bereits unzähliche Dokumentationen gibt, möchte ich für alle, die sich näher mit dem Thema beschäftigen möchten auf die Quellensammlung am Ende dieser Seite verweisen.
2018 bin ich mit dem Fahrrad durch das Atomwaffentestgelände "Semipalatinsk" (STS) gefahren. Das Areal ist frei zugänglich und kann ohne Genehmigung besichtigt werden.

456 Atombomben wurden von der Sowjetunion zwischen 1949 und 1992 westlich von Semej im heutigen Kasachstan getestet. Die "Semipalatinsk Test site" (STS), welche sich über 200 km erstreckt, ist bis heute weitläufig verstrahlt.
Es handelt sich weltweit um das Gebiet, in dem die meisten Atombomben gezündet wurden. Sie besaß mehrere Testsites, Kassernen, Forschungszentrum, Flughafen und eine kleine Stadt.
Hier die wichtigsten Orte im Überblick:

Testsite Opytnoye pole (Ground Zero):
Hier wurde am 29.08.1949 die erste sowjetische Atombombe vom Typ RDS-1 gezündet.
Insgesamt wurden hier bis 1962 86 Atmospharentests sowie 30 Bodenzündungen von Kernwaffen durchgeführt.
Auch die stärkste oberirdisch in Kasachstan gezündete Atombombe (RDS-37) detonierte hier am 22.11.1955. Mit einem Gewicht von 400 kg und einer äquivalenten Sprengkraft von 1,6 Megatonnen TNT stürzte durch die Explosion dieser zweistufigen Wasserstoffbombe noch im 60 km entfernten Kurtschatov ein Gebäude ein. Beim Test kamen zwei Menschen ums Leben, die Krebsrate in der Region ist bis heute um ein vielfaches erhöht

Testsites 4 und 4a
Nicht nur Atombomben, sondern auch sogenannte "schnutzige Bomben" und Waffen wurden hier getestet, sogenannte "Radiological Warfare Agents" (RWA). RWAs waren flüssige oder pulverförmige radioaktive Mixturen, die aus Abfallprodukten der radiochemischen Industrie oder durch Neutronenbeschuss spezieller Materialien hergestellt wurden. Die spezifische Radioaktivität reichte von Zehntel-Curie / Liter bis zu mehreren Courie / L. Die Verbreitung von RWAs wurde durch das Sprengen einzelner Granaten, Beschuss des Gebiets mit Mörsergranaten, Bombardierung durch Flugzeugbomber oder durch die Verbreitung aus Flugzeugen erreicht. Auf der Testsite "4" und "4a" wurden die Langzeitauswirkungen und effektivsten Verbreitungsformen untersucht. Man wollte mit RWAs möglichst effektiv Soldaten und Zivilisten töten, ohne das Land auf Dauer unbrauchbar zu machen.

"BAYKAL-1" Reaktor Komplex
Der Forschungsreaktor "Baykal-1" wurde 1962 bis 1970 erbaut. Hier wurden unter Anderem Tests für das Nuklearraketen Programm der UDSSR durchgeführt. Ich rede nicht von Raketen, die mit Atombomben bestückt waren, sondern von Raketen, die mit einem Atomreaktor angetrieben wurden. Die RD-0410 war ein experimentelles nuklear angetriebenes Raketentriebwerk, mit dem die Sowjets 1994 eine bemannte Mission zum Mars schicken wollten. Die Raketenstufe besaß einen Tank aus flüssigem Wasserstoff und einen Thermonuklearreaktor. Der Wasserstoff wurde zur Kühlung des Reaktors verwendet und dehnte sich durch die hohen Temperaturen stark aus, so dass er mit Überschall das Triebwerk verließ. Durch diese Bauweise konnte die theoretische Zuladung im Verlgiech zu herkömmlichen chemisch betriebenenen Raketen um den Faktor 2 bis 3 erhöht werden.
Seit den 90er Jahren wird hier auptsächlich zur Reaktorsicherheit geforscht. Zudem befindet sich hier das Endlager für Kasachischen Atommüll aud dem 1999 stillgelegten Kernkraftwerk Aqtau. Seit 2009 ist Kasachstan der weltweit größte Uranproduzent. Gleichzeitig hat das Land alle Atomwaffen aus dem Land verbannt. Ende 2023 kündigte Kasachstan an, einen neuen kommerziellen Brutreaktor bauen zu wollen.

Degelen-Berg Testsite
Nach dem Verbot von Atmosphärischen Atomwaffentests durch den Atomtestsperrvertrag (PTBT) 1963, wurden von den Sowjets auf dem Testgelänge "Semipalatinsk-21" (auch Bekannt als Degelen-Berg) üer 200 unterirdische Atomwaffentests durchgeführt. Hierzu wurden Stollen in den Berg gegraben, die Atombombe auf Schienen hineingefahren und anschließend verschlossen. Es gab einige Fehlzündungen und auch Blowouts, deren Überreste die Sowjets nach Abzug 1991 zurück ließen. So gelangte in den kommenden Jahren radioaktives Altemetall sowie mehrere Kilo Waffenfähiges Plutonium in die Hände von Schrottsammlern und anderen Organisationen. 13 Bohrlöcher kamen aufgrund des Niedergangs der UDSSR nie zum Einsatz. Im Zuge einer großen, geheimen Säuberungsoperation, die von 1996 bis 2012 dauerte, um Plutoniumrückstände und reines waffentaugliches Metall von erfolgreichen Explosionen und Blindgängern zu beseitigen, wurden die 181 Tunnel in einer gemeinsam koordinierten Aktion von Kasachstan, Russland und den USA verschlossen. Heute erinnert ein Denkmal an die Säuberungsaktion.

Balapan Testsite
Die Balapan Testeite befinde sich im Südöstlichen Bereich vom Testgelände Semipalatinsk. Auf einer Fläche von 780 km² wurden hier insgesamt 105 Nukleare Sprengköpfe unterirdisch in Bohrlöchern getestet. Der Großteils des Bereichs ist nur geringfügig kontaminiert. Bei nur 10 Bohrlöchern kam es zur oberflächennahen Kontamination. Mit der Verschließung der Bohrlöcher wurde 1996 begonnen. Hier wurden auch Tests im Rahmen der Progamme "Anwendung von Atomexplosionen im Interesse der zivilen Volkswirtschaft" (Progrmma Nr. 6) sowie "Friedliche Atomexplosionen für die zivile Volkswirtschaft", auch bekannt unter dem Namen "Programm Nr. 7" für die Untersuchung der zivilen Nutzung von Atomwaffen durchgeführt. Im Rahmen des Projekts Petschora–Kama-Kanal wollte man die Flüsse petchora und Volga verbinden, um den Warentransport zwischen Schwazem Meer und Kaspischen Meer zu erleichtern und um mehr Wasser ins Kaspische Meer zu leiten. Zum Testen der Anwendung für das Ausheben von großen Erdmassen wurde hier 1965 in einer Tiefe von 178m am Fluss Chagan eine Kernwaffe mit 140 Kilotonnen TNT Äquivalent gezündet und ein ca. 400 m großer und 100 m tiefer künstlicher Stausee geschaffen. Der test lief unter dem Codenamen "Balapan-1004". Drei weitere 15-Kilotonnen Sprengköpfe wurden 1971 am geplanten Standort des Kanals im Heutigen Russland durchgeführt. Aufgrund der berechneten benötigten Menge von mehreren Hundert Atombomben wurde das Projekt eingestellt. Der Chagan-Lake (Auch Atomsee genannt) ist bis heute der weltweit größte durch eine Atomexplosion erschaffene künstliche Gewässer. Die Umgebung und die Sedimente im Wasser sind bis heute radioaktiv verstrahlt. Das Wasser an sich ist, da es sich um ein Fließgewässer handelt, relativ unbelastet.

Sary-Uzen Testsite
Ähnlich wie auf der Balapan-Site wurden auf dem Gelände von Sary-Uzen Atomexplosionen in Bohrlöchern durchgeführt. Auf dem Geländ befinden sich 29 Bohrlöcher. Hierbei kam es drei mal zu Erdauswürfen, da die Sprengkraft falsch eingeschätzt wurde.

Aktan-Berli Testsite
Auf dem Gelände von Aktan-Berli wurden in insgesamt 158 Bohrlöchern Atomtests mit unvollständigen Kettenreaktionen durchgeführt. Deshalb wurden auf dem Areal große Mengen waffenfähigen spaltbaren Materials zurückgelassen. Um die Kontamination einzugenzen und die terroristische Weiterverwendung des zurückgelassenen Materials zu unterbinden, wurde in 2004 unter dem Codenamen "Groundhog" (Waldmurmeltier) eine 2700m² große Betonplatte erbaut und mit Erde überschüttet.

Telkem Testsite
Auf dem Gelände von "Telkem" wurden zwei Tests für die kommerzielle Nutzung von Atomexplosionen durchgeführt. Man wollte, ähnlich wie bei dem Chagan-Krater das Ausheben von Erdmassen für den Wasserstraßenbau untersuchen. Beim ersten Test (Telkem-1) wurde mit einer einzelnen Atomexplosion von 0,24 Kilotonnen TNT ein 31,4 m tiefer und 80 m bereiter Krater geschaffen. Beim Zweiten Test (Telkem-2) wurden gleichzeitig drei 0,24 Kilotonnen Atombomben gezündet und so ein länglicher See ausgehoben. Das Gelände wird heute als Weideland genutzt. Das Grundwasser, der Boden, die Vegetation und die Milch der Weidetiere ist bis heute radioaktiv belastet.

Novaya-Zemlyz Testsite
Das Testgelände "Novaya-Zemlyz" wurde in den späten Jahren der Sowjetunion errichtet. Hier sollten weitere Tests in Bohrlöchern durchgeführt werden. Entsprechende Vorbereitungen wurden durchgeführt. Doch durch den Zusammenbruch der Sowjetunion kam es nie dazu. 1994 bis 1998 wurde das Semipalatinsk Testgelände entmilitarisiert. Am 31. Mai 1995 wurde die letzte Atombombe auf dem Gelände Degelen gezündet. Ab 1996 wurden die radioaktiven Hotspots dekontaminiert.


Begonnen habe ich meine Radtour in der Stadt Semei. Die Stadt hat ca. 300.000 Einwohner und liegt im Nordosten Kasachstans in der Nähe der Russischen Grenze. Bis 2007 hieß die Stadt Semipalatinsk, nach ihr ist das Kernwaffentestgelände benannt.

Im Zentrum vin Semei befindet sich die Staatliche Medizinische Akademie Semei (Semei Medizina Universitet). Koordinaten: 50.406,80.244. Es beherbergt in einem seperaten Gebäude eine Medizinische Sammlung (The Teaching and Clinical Centre, Semey SMU). Das unmarkierte Gebäude wirkt unscheinbar. Die Ausstellung beinhaltet in Gläsern eingelegte Missbildungen von Babys und Embryos, welche in Folge der radioaktiven Strahlung in der Region nach den Atomwaffentests auftraten.

Die Sammlung war zum Zeitpunkt meiner Ankunft nicht öffentlich zugänglich. Mittels Google Übersetzer habe ich mich durchgefragt und durfte nach einem kurzen Besuch im Sekretariat die Sammlung besichtigen. Ich habe eine Aufwandsgebühr von umgerechnet 2€ gezahlt. Dafür wurden mir die einzelnen Exponante gezeigt und erklärt. Der Eingang zur Universität befindet sich in der Abai-Straße etwa 300 m nordwestlich vom Zentralen Platz. Die Medizinische Sammlung befindet sich in Raum 28 im Obergeschoss im Innenhof Gegenüber des Hauptgebäudes. Das Sekretariat befindet sich in Raum 2 im Erdgeschoss, hier kann man nach dem Schlüssel fragen.

Als nächstes bin ich zum "Stronger than death" Denkmal gefahren. Dieses befindet sich auf einer Insel des Flusses Irtysch etwa 2 km südöstlich vom Stadtzentrum. Es besteht aus dunklen glatten Marmorplatten. Auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel ragt eine große Skulptur in der Form eines großen dunklen Grabsteins hervor. In der Mitte fehlt ein Ausschnitt in der Form eines Atompilzes. Am Boden bäugt sich eine steinerne Frau schützend über ein neugeborenes Baby. Das Denkmal wird von einem Blumenbeet umrandet.

Da ich mit dem Nachtzug angereist bin und noch eine lange Fahrt vor mir hatte, habe ich im Hotel Europa direkt neben der Universität übernachtet. Das Zimmer hat umgerechnet 20€ gekostet. Am nächsten Morgen habe ich die Stadt auf der R-174 Richtung Kurtschatow verlassen. Semei ist wie der Rest Kasachstans nicht sehr Fahrradfreundlich. Zum Glück war sehr wenig Verkehr.

Es war ein kühler Septembermorgen, Nebelschwaden lagen in der Luft. Die schnurgerade schmale Landstraße war von Schlaglöchern übersäht. In der Nacht hatte es geregnet. Ein Frischer Wind, gemischt mit den Abgasen der alten Autos wehte mir entgegen. Ab und zu spitzte die Sonne zwischen den Wolken hindurch.

Die Straße verläuft über zig Kilometer schnurgerade durch die flache baumlose Steppe. Die Landschaft ist so, wie man sich Kasachstan vorstellt, wenn man noch nie in Kasachstan war. Kurz nach Verlassen der Stadt entdeckte ich eine am Straßenrand grasende Herde Wildpferde.

Ich hatte ziemlich mit dem Gegenwind zu kämpfen, der durch die flache Landschaft pfiff. Ab und zu tauchten am Straßenrand kleine Ortschaften auf, in der Nähe weideten meist Schafe, bewacht von aufmerksamen Hunden. Mehrfach liefen mir bellende Hunde hinterher, denen ich mit meinem Gepäck nur mit Glück entkommen konnte. Gegen Nachmittag erreichte ich den Fluss (oder sollte ich eher Bach sagen) und die gleichnamige Stadt Chagan. Etwa 80 km flussaufwärts, südlich von hier befindet sich die Balapan-Testsite. Der Fluss wird dort dort durch einen 1965 durch eine Atombombe verursachten Krater aufgestaut. Ich kann hier, 80 km entfernt keine erhöhte Strahlung feststellen. Chagan war früher eine geschlossene Stadt, man durfte sie nur mit Genehmigung betreten. Hier waren Soldaten untergebracht. Nach Beendigung der Atomwaffentests wurde die Stadt verlassen und bis auf wenige Gebäude vollständig zerstört. Nur das Umspannwerk ist noch in Betrieb. Eine Bande wilder Straßenhunde versperrt mir den einzigen Zugang in die Stadt, deren Ruinen ich sonst gerne erkundet hätte.

Etwa 8 km südlich der Stadt befindet sich der "Dolon" Flugplatz. Von hier aus starteten die Bomber, welche die Atombomben über dem Testgelände abwarfen.

Der Flugplatz besaß zwei Treibstofflager, Kassernen, ein zentrales Heizkraftwerk, Wartungshallen, ein Hauptquartier für Offiziere, ein Schulungsgebäude, zwei Start- und Landebahnen sowie mehrere Bunkeranlagen für die Flugzeuge und Atombomben.

Die meisten Bunker bestanden auf einem halbrunden Bogen aus Spannbeton und waren mit ca. 2 bis 3 Metern Erde überschüttet. Die Anlagen wurden bis auf die Grundmauern leergeräumt und geplündert. Die Natur holt sich das Areal nach und nach zurück.

Die Landebahn, auf der heute Sträucher zwischen Betonplatten wachsen und Kühe grasen, ist das ehemalige Herzstück des Flugplatzes. Es handelte sich mit einer Länge von 4 km um die zweitlängste Landebahn Kasachstans und einer längsten weltweit. Der Flugplatz liegt knapp 1300 km nord-west-westlich vom Weltraumbahnhof Baikonur und damit in der Flugbahn der dort startenden Raketen. Die Landebahn wurde extra so lang gebaut, um eine Notlandung des sowjetischen Buran-Shuttles zu ermöglichen. Das Buran-Shuttle wurde als Reaktion auf das Amerikanische Space-Shuttle gebaut. Insgesamt wurden nur zwei jemals gefertigt und es gab nur einen unbemannten Testflug bevor das Programm eingestampft wurde. Wer mehr über den Weltraumbahnhof Baikonur erfahren möchte, ich habe hier einen ganzen Artikel dazu geschrieben.

Es stehen nur noch wenige Gebäude auf dem Gelände des Flugplatzes Dolon. Da es langsam Abend wurde und ein Unwetter aufzog, richtete ich mir meinen Zeltplatz in einer windgeschützten Ecke der ehemaligen Wartungshalle ein. Auch diese war komplett geplündert, nur noch die Grundmauern stehen und überall liegen Pferdeäpfel oder Bauschutt. Doch ich war froh, in der sonst offenen Steppe einen windgeschützten Platz zu haben.

Die Nacht war recht frisch. Es regnete stark und es zogen mehrere Gewitter über mich hinweg. Ich wachte recht früh auf und nach einem kurzen Frühstück bestehend aus Wasser und Haferbrei machte ich mich auf den Weg nach Kurtschatow. Früh kam ich ganz gut vorwärts, da der Wind noch nicht so stark war. Mir war noch kalt von der Nacht, doch ab und zu spitzte die Sonne hervor und spiegelte sich in den glitzenden Pfützen.

Parallel zur Straße verläuft die Zugstrecke von Semei nach Kurtschatow. Eine alte sowjetische Diesellok, bestückt mit türkis gestrichenen sowjetischen Schlafwagen rattert an mir vorbei, es ist der Nachtzug nach Pawlodar. Kurz überkommt mich ein Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, mit dem Fahrrad zu fahren.

Ich fahre weiter, die restliche Strecke verläuft ohne Probleme. Gegen Mittag komme ich in Kurtschatow an. Auch dies war bis vor wenige Jahre eine geschlossene Stadt. Sie wurde als Planstadt für das Atomprogramm errichtet und trug die Codenamen Semipalatinsk-21 und Moskau-400. In Semipalatinsk und Moskau gab es ein spezielles Postfach, so konnte Post ohne Aufmerksamkeit zu erwecken hierher umgeleitet werden. Hier waren die Wissenschaftler und Arbeiter untergebracht. Im Grunde fast jeder, der in die sowjetischen A.tomwaffentests verwickelt war, kam hier vorbei. Ich mache kurz Pause, ein angerosteter grau gestrichener sowjetischer Polizeibus fährt an mir vorbei und reist mich aus meinen Gedanken

Im Zentrum von Kurtschatow steht die Stadthalle, das Klassizistische zweistöckige Gebäude ist hellblau gestrichen. Auf dem grünen Wellblechdach weht die Kasachische Flagge. Davor ein gepflegter Park und in der Mitte die Statue von Igor Kurtschatow. Der 1903 geborene theoretische Physiker war Leiter des sowjetischen Atombombenprojets und gilt als der Vater der Sowjetischen Atombombe. Er ist das sowjetische Pendant zu Robert Oppenheimer. Stalin befahl Kurtschatow 1943 den Bau einer Atombombe bis 1948 und stellte ihm alle notwendigen finanziellen Mittel bereit. Nach der orfolgreichen Zündung der ersten sowjetischen Atombombe am 29. August 1949 arbeitete er am Sowjetischen Wasserstoffprogramm. Nur vier Jahre später testeten er und sein Team die erste sowjetische Wasserstoffbombe. Zunehmend sah er die Zerstörung und die Gefahren und trat vermehrt für eine Beendigung der Atombombentests ein. In den 1990er Jahren wurde die Stadt ihm zu Ehren Kurtschatow benannt.

Die Stadt besteht großteils aus grauen fünfstöckigen Plattenabuten aus den 50er und 60er Jahren. Die meisten Gebäude sind ziemoch heruntergekommen. Einige Gebäude sind verlassen. Es gibt mehrere Stadtparks, überall stehen Denkmäler, die an die Geschichte der Entwicklung der Atombombe erinnern. Noch heute befindet sich das Kasachische Institut für Atomenergie in Kurtschatow.

Im Zentrum steht eine große blaue Stele mit den Jahreszahlen 1947 - 1972. An der spitze prangt ein goldener fünfzackiger Stern. Sie trägt die Inschrift "Gewidmet an die militärischen Erbauer". An der Seite der Stele befindet sich eine schematische Abbildung der Plattenbauten von Kurtschatow, ein Atom und eine Rakete, umrandet von traditionellen kasachischen Mustern.

Nach einer kurzen Mittagspause mache ich mich auf Richtung Testsite P-1, wo die erste sowjetische Atombombe gezündet wird. Eine 70 km lange schnurgerade Straße führt in die Steppe. Ein Straßenschild weißt den Weg, nach Links geht es zum Kohlebergwerk "Karazhira", anch rechts geht es nach Aksu und gerade aus geht es ins Nichts, genau da will ich hin. Ich halte kurz an und vergewissere mich auf der Karte. Der Schrankenwärter am Bahnübergang fragt mich, wohin ich will. Ich zeige gerade aus und er sagt "Atom". Ich nicke. Zu Beginn ist die Straße noch mit Betonplatten gepflastert. Große Schlaglöcher übersähen den Weg. Schon bald hören die Betonplatten auf und ich befinde mich auf einer Schotterpiste mitten im Nirgendwo.

Ich fahre stundenlang geradeaus, der Gegenwind wird immer stärker. Wieder kommt mir ein grauer Polizeibus entgegen, der Fahrer hupt mir zur Begrüßung freundlich zu. langsam ziehen Wolken auf. Es wird immer dunkler. Am späten Nachmittag fängt es an zu regnen, erst nur ein paar Tropfen, dann ein totaler Wolkenbruch. Der Wind peitscht mir um die Ohren. Bis zum Horizont ist weit und breit nur flache Steppe. Um mich herum blitzt und donnert es. Um nicht vom Blitz getroffen zu werden, stelle ich mein Fahrrad etwas entfernt von mir ab und suche im Straßengraben Schutz. So schnell wie das Gewitter gekommen ist, zieht es auch wieder vorbei. Die SOnne kommt raus und zaubert einen wunderschönen Regenbogen über die gold leuchtende Steppe.

Die Straße hat sich in eine aufgeweichte Schlammpiste verwandelt. Ich komme kaum noch schneller als Schrittgeschwindigkeit voran. Ich befinde mich noch etwa 20 km vom Ground-Zero entfernt und mein Geigerzähler zeigt, dass die Strahlung an meinem Standort nicht erhöht ist. Da bald Sonnenuntergang ist, beschließe ich, mein Zelt aufzubauen. Mein Fahrrad stelle ich leicht erhöht als Blitzableiter in sicherer Entfernung auf. Am Abend zieht noch ein Gewitter über mich hinweg.

Es bleibt windig und in der Nacht kühlt es auf 3 °C ab. Ich habe nur einen Sommerschlafsack und dünne Klamotten dabei. Entsprechend oft wache ich in der Nacht auf.

Leicht ausgekühlt mache ich mich bei Sonnenaufgang auf den Weg. Es hat aufgehört zu regnen und die Schotterpiste ist nicht mehr ganz so matschig. Den IGR-Forschungsreaktor lasse ich links liegen. Ich erreiche den Rand der Testsite P-1. Ein altes Schild steht am Wegrand: "Sperrgebiet - Durchfahrt Verboten". Hinter einem flachen Hügel stehen Zaunpfosten als Überreste der 3 Reihen Stacheldraht, die das Gebiet ehemals umgaben. Der Wachposten ist längst verlassen.

Die kreisrunde Zone P-1 hat einen Radius von 10 km. Sie war in 12 Sektoren unterteilt. Im Uhrzeigersinn:

Der Kommando- und Kontrollbunker (Area-N) befand sich in 20 km Entfernung westlich vom Ground Zero. Zusätzlich gab es zwei Reihen an Messtürmen in 500 m, 600 m, 1,2 km, 1,8 km, 3 km, 5 km, 8 km und 10 km Entfernung.

Am Messturm in 5 km Entfernung war die Strahlung nur minimal erhöht. Der Vier Stockwerke hohe Betonturm ist Richtung Ground-Zero ausgerichtet und war früher mit Messinstrumenten bestückt.

Ich fahre weiter auf dem Feldweg richtung Detonationszentrum. Je näher ich komme, desto stärker wird die Strahlung. Die Messtürme sind schwarz gefärbt von der Explosion. Sie haben große Risse und stehen wie ein totes Gerippe schief in der Landschaft. Man kann sich kaum ausmalen, welche Kräfte hier gewirkt haben.

Mein Geigerzähler schlägt Alarm. Die Strahlung beträgt über 3 uS/h Das ist das 30-Fache der Hintergrundstrahlung. Ich erreiche einen kleinen Krater, hier steigt der Geigerzähler auf über 25 uS/h. Hier sollte man sich nicht länger als 15 Minuten aufhalten.

Ich Blicke Richtung Südosten. Die Messtürme in 500m und 600m sind fast vollständig zerstört. Der Beton des Messturms in 1,2 km Entfernung ist angeschmolzen. Links sieht man die Überreste zerstörter Brücken.

Ich Blicke auf den Boden. Dieser ist steinig. Durch die Explosionen wurde Staub und Sand aufgewirbelt. Die Hitze der Atombomben brachte diesen zum Schmelzen. Es entstanden kleine unförmige schwarze Glasbrocken, welche mit Cobald-60, Europium-Isotopen, Caesium-137, Americum-141, Strontium-90 und Plutonium-239 und 240 vermischt waren. Diese Glasbrocken wrden Kharitonchik (харитончик) genannt. Sie sind bis heute schwache Alphastrahler.

In einiger Entfernung, als die Strahlung wieder auf niedrigerem Niveau war, habe ich für eine spätere Untersuchung in einer Nebelkammer und einem Gammaspektrometer drei KleineProben dieses glasartigen Gesteins gesammelt. Wer sich über die Proben und ihre Untersuchung interessiert, ich habe hier einen extra Artikel dazu geschrieben.

Ich machte mich auf den Rückweg. Kurz nach dem Verlassen der 10 km Sperrzone kam mir wieder dar Polizeitransporter vom Hinweg entgegen. sie kontrollierten kurz meine Papiere und wünschten mir einen guten Heimweg Es begann wieder zu regnen, der anfängliche Nieselregen entwickelte sich in einen Dauerregen, der den Rest des Tages anhielt. Die Straße zurück nach Kurtschatow war eine einzige Schlammpiste.

Ich kam nur langsam vorran, erst am späten Nachmittag war ich völlig durchnässt zurück in Kurtschatow. Die Straßen im Stadtzentrum haben sich in riesige Pfützen verwandelt. Ein paar wagemutige AUtofahrer trauten sich durch das knietiefe Wasser zu fahren. Nachdem ich mir beim Bäcker ein Piroschki gekauft habe, ging ich ins einzige Hotel der Stadt und ruhte mich ertmal aus. Am ncästen Tag fuhr ich mit dem Zug weiter in die Hauptstadt Astana. Hierzu habe ich hier einen Artikel geschrieben.

Quellenangaben und Hintergrundinformationen:

Bericht vom Institut für Strahlensicherheit und Ökologie von Kasachstan: (2011)
caravanistan.com/wp-content/uploads/2018/02/semipalatinsk-test-site-2011-booklet.pdf

Kartenmaterial:
www.flickr.com/photos/martintrolle/sets/72157638122387574

Webseite des Kasachischen Kernforschungszentrum:
sts.nnc.kz/index.php?id=17&L=1

Studie von 2001:
www.mirnyi.arwis.com/book_2/5_5_1.html

Bericht über Cleanup der Degelen-Testtunnel (Harvard Kennedy School 2013)
www.belfercenter.org/sites/default/files/files/publication/Plutonium%20Mountain-Web.pdf

Augenzeugenbericht (Deutschlandfunk 2013)
www.deutschlandfunk.de/steppenbeben-augenzeugen-der-sowjetischen.media.6a6da191eb366d6856a242ff44fd33d2.txt


Historische Videoaufnahmen:

Kazakhstan Semipalatinsk Nuclear Bombs
www.youtube.com/watch?v=uC81mNZU7hc

RDS-37 Soviet hydrogen bomb test (1955)
www.youtube.com/watch?v=EHRLEMTsLyA

Joe 1
sonicbomb.com/modules.php?name=Content&pa=showpage&pid=50

Семей Полигоны-Семипалатинский испытательный полигон-Semipalatinsk Test Site
www.youtube.com/watch?v=U5Ra_lQScVA

Soviet nuclear test. Chagan. Atomic Lake.
www.youtube.com/watch?v=ZAoSUIASET0


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