Radtour durch Chernobyl Sperrzone
Belarus, August 2024
Im Sommer 2024 machte ich eine Radtour durch einige der am stärksten von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Gebiete in Belarus. Meine Tour begann in Krasnapolle, etwa 220 km nordöstlich von Prypjat und führte mich über die P38 nach Chechersk. Diese Gegend ist aufgrund der Folgen der geheimen "Operation Zyklon" besonders belastet – einer sowjetischen Maßnahme, bei der militärische Flugzeuge radioaktive Wolken gezielt zwischen Gomel und Mogilev im heutigen Belarus abregnen ließen, um Moskau vor dem Fallout zu schützen. Die Wolken wurden mit Silberjodid geimpft, was plötzliche Wolkenbrüche verursachte, die ohne Vorwarnung über Städten und Dörfern niedergingen und die Bevölkerung ahnungslos der Strahlung aussetzten.
Rund 23% der Landesfläche von Belarus sind bis heute von dieser Kontamination betroffen. Während Prypjat und Chernobyl industriell geprägt waren, zeichneten sich die in Belaurs betroffenen Gebiete durch Landwirtschaftliche Betriebe aus.
Nach einer Übernachtung im Zelt bei Chechersk setzte ich meine Tour fort über die P30 in Richtung Dobrusch südlich von Wetka, einem Ort, der als der am stärksten kontaminierte in Belarus bekannt ist.
Um die Folgen zu vertuschen, ordnete die Sowjetregierung an, kontaminierte Tiere notzuschlachten und das belastete Fleisch mit nicht kontaminiertem zu mischen. Das Fleisch wurde landesweit verteilt, während nur Moskau und St. Petersburg verschont blieben. Als der Schlachthof in Gomel an seine Kapazitätsgrenzen stieß, transportierte man das Fleisch in Kühlwagen weiter in andere Städte, wo es von den jeweiligen lokalen Behörden abgelehnt wurde, bis man es schließlich nach einigen Jahren in Belarus vergrub.
Tragischerweise wurden einige der stark belasteten Gebiete erst Jahre später – teils erst in den 2010er Jahren – evakuiert. Trotz der massiven Verseuchung leben nach wie vor 1 bis 1,5 Millionen Menschen in den verstahlten Gebieten. Die Region gilt als die Ärmste in Belarus. Die Krebsraten sind stark erhöht.
Es ist relativ sicher, sich kurzfristig in den Gebieten aufzuhalten. Die Hauptstraßen P38 und P30 sind dekontaminiert. Wenn man von der Hauptstraße abweichen möchte, braucht man eine Genehmigung der Belarussischen Verkehrspolizei. Diese habe ich mir im Vorraus eingeholt. Man muss aufpassen, dass man nicht ausversehen nach Russland fährt, mehrere unmarkierte Feldwege führen über die Grenze. In dem Gebiet leben viele wilde Wöfe. Zudem besteht im Sommer eine erhöhte Waldbrandgefahr.
Ich verweise sonst immer am Ende meiner Artikel auf Quellen und weitere Informationen, möchte dies hier aber bewusst am Anfang tun, da diese Informationen für ein fundiertes Verständnis meiner beschriebenen Erlebnisse und deren Hintergründe entscheidend sind und ich die Authentizität meiner Recherche und die Tragweite der Chernobyl Katastrophe verdeutlichen möchte:
https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/land-leute/belarus-experimentierzone-bei-tschernobyl-100.html
https://www.internationales-verkehrswesen.de/geplante-e40-wasserstrasse-koennte-erhoehtes-strahlenrisiko-bringen/
https://osteuropa.lpb-bw.de/simon-holodomor-als-voelkerm
https://time.com/4305507/chernobyl-30-agriculture-disaster/
https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/apr/04/chernobyl-nuclear-power-climate-change-health-radioactivity
https://www.dekoder.org/de/gnose/tschernobyl-belarus-folgen
https://www.atlasobscura.com/places/chachersk-airplane
https://orda.of.by/.add/gallery.php?demyanki/manor_main/art/fspi
https://www.kp.ru/daily/24479.5/637016/
http://meridian28.com/report/demianky.html
https://tsn.ua/en/ato/russia-deploys-iranian-shahed-136-kamikaze-drones-in-belarus-2177644.html
https://ru.wikipedia.org/wiki/Демьянки_(Гомельская_область)
https://youtu.be/7KwFEw1weqI&t=413s
https://youtu.be/lbThP55CtoQ&t=658s
https://youtu.be/ISToBIkSNbM
Krasnapolle ist eine verschlafene Kleinstadt. Ich hatte ein Zimmer in der einzigen Unterkunft der Stadt (Gostinitsa Upkp "Zhilkommunkhoz"). Das Zimmer kostete mich ca. 20€, die Unterkunft führt die Staatliche Registrierung durch, die man bei der Ausreise vorzeigen muss. Im Zentrum von Krasnapolle steht ein Banja, ein kleine uriges typisches russisches Badehaus aus sowjetischen Zeiten. hierzu schreibe ich noch einen extra Artikel.
Die P38 nach Chechersk ist eine geteerte, sehr wenig befahrene Straße. Sie ist beliebt für Radtouren. Ich habe auf meiner Fahrt mehrere Mitglieder des Minsk Cycling club getroffen.
Von Hauptstraße zweigen immer wieder mit Betonplatten belegte Wege ab Sie führen zu den Ruinen ehemaliger Ortschaften, alten Kirchen und Friedhöfen. Kurz nach dem fast vollständig verlassenen Dorf Probeda zweigt nach reichts ein Weg zur heilige Quelle des großen Propheten Johannes des Täufers ab.
Hier kann man ein Tauchbad nehmen. Das Wasser soll eine heilende Wirkung haben. Die Strahlung war nur leicht erhöht, ich habe trotzdem darauf verzichtet.
Zurück auf der Hauptstraße biege ich auf einen unmarkierten Feldweg nach links ab, um zur verlassenen Ortschaft Gataviec zu gelangen. Auf Google Maps ist sie nicht mehr verzeichnet, nur ein einziges halb verfallenes Haus konnte ich auf den Satelitenaufnahmen noch erkennen. Eine Gedenktafel am ehemaligen Ortseingang erinnert noch an die ehemalige Ortschaft.
Gataviec lag idyllisch an einem Bach gelegen, es besaß etwa 30 Hölzerne Bauernhäuser, einen gemeinschaftlich betriebenen Landwirtschaftsbetrieb, eine Schule und ein Gemeindezentrum. Das folgende Foto entstand vor dem 1969 errichteten Gemeindezentrum von Gataviec. Das rote Backsteingebäude ist das letzte stehende Gebäude in der Gegend und wurde komplett geplündert.
Die Bauernhäuser, welche hast durchgehend aus Holz bestanden, sind komplett verfallen. Nur wichtige Gebäude wie Gemeindezentren, Schulen oder Kollektivbauernhöfe (Kolchos) wurden aus Stein gebaut. Die Natur holt sich das Areal Stück für Stück zurück.
Die Hintergrundstrahlung auf den Wegen ist etwa um das 1,5-fache erhöht. Mehrfach versperren mir umgestürzte Bäume den Weg, so dass ich durchs Unterholz laufen muss. Im Wald beträgt die Strahlung etwa das 5 bis 10-Fache der natürlichen Hintergrundstrahlung.
An einer Waldlichtung ist die Strahlung besonders hoch, hier wurde vor kurzem radioaktives Brennholz geerntet. Die frisch geschnittenen Baumstämme liegen am Wegrand. Der Waldboden liegt durch die Bearbeitung mit den schweren Maschinen offen, die warme Augustsonne strahlt herunter, mein Geigerzähler schlägt durchgängig Alarm.
Die meisten Stämme sind zwischen 35 und 50 Jahre alt und haben daher als junge Bäume die Chernobyl Katastrophe miterlebt und entsprechend radioaktives Material eingelagert.
Einige Hundert Meter entfernt hinter einem Gebüsch wurde leicht versteckt ein Holzvollernter abgestellt. In der Fahrerkabine liegen Papiere der Lokalen Staatlichen Forstbehörde.
Ich folge weiter der P38. Immer wieder zweigen kleine Straßen nach Rechts und Links ab. Jeder der mit Betonplatten gepflasterten Wege steht für eine Ortschaft, die nach der Chernobylkatastrophe aufgegeben wurden. Am Wegrand weisen Rot-Gelbe "Radioaktiv" Schilder auf die unsichtbare Gefahr hin. Das Befahren der Wege mit dem Auto ist aufgrund der Waldbrandgefahr verboten. Zudem gibt es sporadisch Hinweistafeln entland der Hauptstraße, dass das Pilze Sammeln und Jagen verboten sind.
An der Abzweigung zum Dorf Zhuravy steht eine Gedenktafel für die Opfer des zweiten Weltkriegs. Diese wurde erst letztes Jahr (2023) aufgestellt. Davor wurden Kunststoffblumen abgelegt.
Manche Wege sind bereits vollkommen überwuchert, andere zeigen frische Fahrspuren und führen zu einzelnen bewohnten Höfen. Den Menschen wurde eine kleine Entschädigung angeboten, wenn sie das Gebiet verlassen. Diese deckte jedoch bei weitem nicht die Kosten eines Umzugs und wer er sich nicht leisten konte oder seine Heimat nicht verlassen wollte, blieb.
Die Strahlung ist lokal sehr unterschiedlich, je nachdem wo es nach der Reaktorkatastrophe regnete. So wurden einzelne Ortschaften, die mitten im kontaminierten Gebiet liegen, nicht evakuiert, da man sie als sicher einstufte. So ist zum Beispiel das Dorf Vydrenka mit ca. 25 Bauernhöfen und umliegenden Feldern heute komplett von der Sperrzone umgeben aber selber ausgenommen.
Im Zentrum der Ortschaft Vydrenka steht eine alte hölzerne Kirche. Die Kirche ist frisch blau gestrichen, mit geschnitzten Verzierungen an den Fenstern, einem strahlend weißen Dach und zwei achteckigen Holztürmen mit verzierten goldenen zwiebelförmigen Kugeln an der Spitze.
Ich fahre weiter und komme wieder an einer heiligen Quelle vorbei. Die Region wirkt auf mich sehr religiös geprägt. Ich selber kann mit den Versprechen angeblicher Heilwirkung nicht viel anfangen, aber die Mittagshitze und die niedrige Strahlung verleiten mich dazu, mich ein wenig abzukühlen.
Nach einer kurzen Mittagspause mache ich mich wieder auf Richtung Chechersk. In der Ortschaft Volosovichi komme ich an einem Supermarkt vorbei. Ich habe in Belarus sonst immer Leitungs- oder Brunnenwasser getrunken, aber hier vertraue ich der Wasserwualität nicht und greife daher auf Wasserflaschen zurück. Der Supermarkt besteht aus einem kleinen Verkaufsraum mit einem Regal mit Reinigungsmitteln und Klopapier, einer Wursttheke, daneben die Kasse und dahinter ein großes Regal mit diversem Alkohol, ein paar Softdrinks und trockenen Keksen.
Ich fühle mich direkt in die 60er Jahre zurück versetzt. Die Wände und Decken sind mit Vinylplatten ausgekleidet. Eine alte mechanische waage für Obst und Gemüse steht auf dem Tresen, dahinter kann ich ein Blick in einen unverputzten Lagerraum erhaschen. Dort stehen ein Hocker, Putzeimer unf ein an der Wand angelehnter Wischmob. Ich kaufe mir eine Flasche Wasser und ein Eis und mache mich wieder auf den Weg.
Am späten Nachmittag komme ich am Rand der Sperrzone im Dorf Krasnyi Bereg am Fluss Sosch an, hier gab es früher eine Fährverbindung in die Kleinstadt Chechersk. Der Fluss Sosch ist ein Seitenarm des Dniepr, welcher weiter Flussabwärts gerade den Frontverlauf im Ukrainekrieg markiert. Hier in Belarus bekommt man vom Krieg im Nachbarland, abgesehen davon dass keine Flugzeuge mehr fliegen, so gut wie nichts mit. Der Fluss Sosch war früher eine wichtige Handelsverbindung zum Schwarzen Meer. Er entspringt in der Nähe der Stadt Smolensk in Russland und seine Flussauen gelten neben denen des Flusses Prypjat, welcher weiter südlich bei Chernobyl ebenfalls in den Dnepr mündet, als eine der letzten unberührten in Europa. Ich schwimme eine Runde im Fluss und genieße die Ruhe.
Da die Fährverbindung eingestellt wurde, muss ich einen 14 km Umweg nach Chachersk fahren. Im Zentrum von Chachersk steht eine alte sowjetische Tupolev-124. Die Tu-124 war ein Schwesterflugzeug der Baureihe der Tu-104, dem ersten kommerziell erfolgreichen Düsenjet der Welt. Die Firma Tupolew ist einer der ältesten Flugzeughersteller der Welt und galt einst als eines der wichtigsten Flugzeugunternehmen. Sie entwickelten z. B. auch die Tu-144, das erste Überschallverkehrsflugzeug der Welt und Vorreiter der heute weitaus bekannteren Concorde. Die Tu-124 besaß 56 Sitze und flog zwischen 1962 und 1980. Sie war mit Fallschirmen unter den Sitzen für Notlandungen ausgestattet. Das Flugzeug hier in Chechersk gehörte einst dem Sowjetischen Verteidigungsministerium. Während Sowjetzeiten war es üblich, ausgemusterte Maschinen oder Kriegsgerät in Stadtzentren auszustellen. Ich konnte jedoch nicht in Erfahrung bringen, wie eine Tu-124 ausgerechnet hier "gelandet" ist. Der nächste Flughafen in Gomel ist über 100 km entfernt
Das Flugzeug trägt die Aufschrift "Чачэрск" (Chechersk). Nachdem es hier aufgestellt wurde, diente es zunächst als Kino und in späteren Jahren als Kulturzentrum für Ausstellungen und Handwerkskurse wie z. B. Strickkurse. Heute dient es nur noch als Monument, in der Abendsonne treffen sich Familien und Kinder spielen im Park und fahren ums Flugzeug herum. Neben dem Flugzeug befindet sich die Stadthalle und Stadtmuseum, welche jedoch zum Zeitpunkt meines Besuchs ebenfalls geschlossen waren. Das Gebäude sah stark renovierungsbedürftig aus.
Ich mache mich auf den Weg ins einzige Hotel der Stadt. Das Hotel hat keinen Namen, es heißt einfach "Гасцініца" (Unterkunft). Es besteht ebenfalls seit Sowjetzeiten und wurde seitdem nicht verändert. Ein Zimmer kostet 35 Rubel (ca. 10 €). Im Eingangsbereich befindet sich ein kleiner Gemischtwarenladen. Leider war das Hotel ebenfalls geschlossen oder ausgebucht, so genau konnte es mir die Verkäuferin nicht sagen. Ich durfte mich jedoch für eine Stunde etwas ausruhen und meine Akkus aufladen. Ich nutzte die Zeit, um mir auf Google Maps einen Platz zum Zelten raus zu suchen.
Zum Sonnenuntergang fuhr ich wieder zurück an den Fluss Sosch. Dort, südlich der Ortschaft Zales'e befindet sich ein offizieller kostenloser Zeltplatz. Ein paar Angler saßen mit ihren Zelten am Fluss und haben BBQ gegrillt. Ich habe mich etwas entfernt davon aufgestellt. Leider lag an dem Platz relativ viel Müll. Ich habe diesen so gut ich konnte eingesammelt und entsorgt. Ich hatte gerade noch genug Licht in der Abenddämmerung, um mein Zelt aufzubauen. Leider hat meine Luftmatratze ihren Geist aufgegeben, weshalb ich quasi direkt auf dem Boden schlief. Der Sandboden war jedoch relativ weich und es war relativ warm.
Am nächsten Morgen habe ich mich früh auf den Weg gemacht. Es sollte wieder ein warmer Tag werden und ich habe wieder über 100 km vor mir. Ich folge der P30, die Straße hat ein paar Schlaglöcher ist aber allgemein in einem guten Zustand. Es ist so gut wie kaum Verkehr, vielleicht alle 10 bis 15 Minuten kommt mir ein Auto entgegen. In der Ortschaft Svetilovichi kaufe ich mir ein ein letztes Mal Proviant für die nächsten eineinhalb Tage, danach macht die Straße einen Knick Richtung Süden. Am Horizont tut sich der dichte Wald auf und scheint die Straße förmlich zu verschlucken.
Hier beginnt die zweite Chernobyl-Sperrzone auf meiner Tour. Wir sind immer noch 180 km Luftlinie vom Unglücksort entfernt, doch aufgrund der "Operation Zyklon" ist dies die am stärksten kontaminierte Region in Belarus.
Ich mache einen kleinen Abstecher in das verlassene Dorf Новыя Грамыкі (Novye Gromyki). Es ist ziemlich warm. Sobald ich anhalte, werde ich von Steckmücken zerstochen.
Die ehemalige Dorfstraße ist bereits ziemlich überwuchert und wirkt eher wie ein Feldweg. Man kann nur noch erahnen, dass sich hier einst Häuser und Vorgärten befanden. Ich erreiche das ehemalige Dorfzentrum. Zu meiner linken steht ein Denkmal für die Opfer des zweiten Weltkriegs.
Die Region hier erlitt im 20. Jahrhundert mehrere große Katastrophen. Zwischen 1931 und '33 verhungerten in der UdSSR Milionen von Bauern. Diese wurden während des Holodomors mit Waffengewalt von ihren Feldern getrieben. Man wollte große staatliche Betriebe schaffen. Die Politkommissare beschlagnahmten das Land und die Lebensmittel und die Menschen verhungerten scharenhaft auf den Straßen.
Danach brachte der zweite Weltkrieg Leid über das Land. 1939 überfielen Nazideutschland zusammen mit der Sowjetunion Polen und teilten es unter sich auf. Der Osten Polens (der heutige Westen Belarus) fiel an die Sowjetunion. Nur zwei Jahre später brach Deutschland den geheimen Teilungsplan und es kam erneut zu Gefechten im heutigen Belarus. 1944 Zog die Front ein drittes Mal über Belarus hinweg, diesmal wieder in die andere Richtung. In Belarus fielen ca. 1,7 Mio. Menschen dem zweiten Weltkrieg zum Opfer. Ganze Ortschaften wurden ausradiert. Ich werde noch näher auf die Rolle Belarus im zweiten Weltkrieg in meinem Artikel über Minsk eingehen.
1986 dann wurden ein Fünftel der Landesfläche Belarus durch den Fallout von Chernobyl unbewohnbar. Moskau bestreitet bis heute, die Operation Zyklon durchgeführt zu haben und leistet keine Hilfen oder Entschädigungen an Belarus.
Novye Gromyki ist heute vollständig verlassen, ein paar Blumen liegen am Denkmal de zweiten Weltkriegs. Mir wurde gesagt, dass es üblich ist, an verlassenen Denkmälern ein paar Blumen oder einen Keks abzulegen. Ich lege einen meiner Keke nieder, die ich am Morgen gekauft habe und mache mich widder auf den Weg.
Zurück auf der P30 entdecke ich am Straßenrand einen alten verlassenen Feuerwachturm. Davor steht ein Warnschild mit der Aufschrift "Strahlengefahr, Der Zutritt ist Verboten!", doch meine Neugierde ist zu hoch und ich beschließe, kurz hin zu gehen. Selbstverständlich habe ich mein Dosimeter in der Hostentasche.
Der Turm ist umgeben von einem zwei Meter hohen Zaun aus Wellblech, perfekt um ein Fahrrad zu verstecken. Der Turm besteht aus drei rostigen eistenen Stützen mit Querverstrebungen, ähnlich wie ein Strommast. Oben an der Spitze befindet sich eine kleine überdachte Aussichtsplattform. Eine rostige notdürftig aus Armierungseisen zusammengeschweißte Leiter führt im Zickzack nach Oben. Alle fünf bis acht Meter befindet sich eine morsche kleine Plattform.
Vorsichtig klettere ich nach oben. Der Turm schwankt leicht im Wind. Ich überprüfe bei jedem Schritt, dass die rostige Leiter unter meinen Füßen nicht nachgibt. Bei den morschen Plattformen bin ich besonders vorsichtig, da hier auch bereits mehrere Bretter fehlen. Je höher ich steige, desto steiler und wackeliger wird es.
Ganz oben befindet sich eine etwas stabilere eiserne Plattform. Die verschließbare Klappe steht weit offen und man kann nach unten auf den Waldboden blicken. Auf einer Seite der Plattform befindet sich ein verlassenes Storchennest. Wir befinden uns etwa doppelt so hoch wie die höchsten Baumkronen. Bis zum Horizont kann ich nur Wald erblicken. Wir sind noch zu weit von Chernobyl entfernt. Ich weiß jedoch, dass es im Dorf Pogonne in Belarus, nur 20 km von Prypjat einen baugleichen Waldbrandbeobachtungsturm gibt, welcher sich in einem bessen Zustand befindet und von welchem aus man den verunglückten Reaktor sehen kann. Trotz Bemühungen konnte ich jedoch keine Genehmigung für die Chernobyl Sperrzone an der Ukrainischen Grenze bekommen.
Wenige hundert Meter nach dem Turm biege ich links von der Hauptstraße links ab, um zur verlassenen Ortschaft Krugovka an der russischen Grenze zu fahren. Kurz nachdem ich von der P30 abbiege, kommt mir eine Polizeistreife entgegen. Sie fragen mich, wo ich hin möchte und ich muss meine Genehmigung vorzeigen. Mittels Google-Übersetzer geben sie mir zu verstehen, dass der Weg ziemlich schlecht und die Strahlung hoch ist und ich dort besser nicht fahren soll, aber sie lassen mich trotzdem weiter fahren und wünschen mir noch eine schöe Fahrt. Das war meine erste und einzige Polizeikontrolle, welche ich in Belarus erlebt habe.
Die Straße wird immer schlechter und mündet in einen unbefestigten Feldweg. Ich fahre mit Schrittgeschwindigkeit. Es sind gut die Wege zu erkennen, an denen die Kontrollfahrten der Polizei stattfinden. Immer wieder stehen Warnschilder vor der Strahlung am Wegesrand. Ich komme an mehreren verlassenen Ortschaften vorbei.
Bei der Ortschaft Omelnoe mache ich kurz Rast. Einige der Holzhäuser sind noch in einem relativ guten Zustand, was darauf schließen lässt, dass sie noch nicht so lange verlassen sind. Teilweise sind sogar noch die Dächer intakt und Fensterscheiben vorhanden. Die meisten Bauernhöfe bestehen aus bunten eingeschossigen Holzhäusern mit Wellblechdach
Die Häuser sind im Inneren komplett geplündert. Vor den meisten Häusern gibt es einen kleinen angebauten Vorraum. Durch diesen betritt man den Eingangsbereich. Von dort aus führt meist eine Luke mit Leiter in den Dachboden und es gibt einen oder zwei Vorratskammern. Danach kommt die Stube. Diese nimmt den Großteil des Hauses ein. Hier befindet sich ein großer Holzofen zum Heizen und Kochen. Bei manchen größeren Bauernhäusern ist die Stube in zwei Räume geteilt.
Jeder Hof besteht idr. aus einem Wohnhaus, welches mit dem First zur Straße steht, gegenüber vom Haus befindet sich meistens ein Stall und nach hinten raus weitere Nebengebäude und die Gärten bzw. Felder. Wenn Grundstücke geteilt wurden, wurden diese längs geteilt, so dass beide Grundstückshälften Zugang zur Straße hatten. Dies hat zu immer schmaleren länglichen Gärten geführt, die rechtwinkling von der Straße weg gehen. Man kann auch heute noch, Jahrzehnte später diese ehemalige Struktur anhand der Büsche und Bäume erkennen.
Ich fahre weiter, die Straße teilt sich, nach reichts zeigt ein Schild "Озеро Амельное" (Amelnoje-See). Hier befindet sich ein Fischzuchtbetrieb mitten in der Sperrzone. Ich fahre weiter auf der ehemaligen Dorfstraße von Omel'noe ins Nachbardorf Morozovka. Die Straße wird langsam wieder besser. In Morozovka befand sich ein Kollektivbauernhof (Kolchos). Dieser steht heute verlassen da.
Am Rande der Ortschaft steht ein Feuerwehrauto, es wird Ausschau gehalten nach Waldbränden. Erst letztes Jahr gab es wieder einen großen Waldbrand in der Sperrzone. Der Boden ist staubtrocken. Ich klettere in einen verlassenen Turm, um besseren Überblick über das Gelände zu bekommen. Es gibt keine Treppe, dafür aber eine notdürftig aus Brettern zusammengenagelte improvisierte Leiter. Es ist alles geplündert bis auf die Grundmauern.
Ich fahre weiter richtung Krugovka. Sie Landschaft wirkt surreal. Die ehemaligen Felder des Kolchos liegen brach da, hohes dörres Gras weht sanft im Wind, dazwischen sprießen vereinzelt Bäume und Sträucher. Die Landschaft erinnert mich irgendwie ein bisschen an die Steppe im Nordosten Kasachstans.
In Krugovka gab es ebenfalls einen Kolchos. Ich mache ich ein paar Luftaufnahmen. Es handelt sich vermutlich um eines der vorerst letzen Drohnenbilder aus Belarus, denn inzwischen hat Staatschef Alexander Lukaschenko ein Dekret erlassen, wodurch sich alle Drohnenbesitzer staatlich registrieren lassen müssen und für Privatpersonen ist die Einfuhr von Drohnen defakto unmöglich geworden.
Krugovka liegt unmittelbar an der Russischen Grenze. Es war früher eine der gerößeren Ortschaften in der Region. Das Dorf besteht aus mehreren zweistöckigen Plattenbauten. Im Zentrum befand sich die Schule und das Gemeindezentrum
Ich stelle mein Fahrrad ab, gehe ins ehemalige Schulgebäude. Eine Polizeisreife fährt außen vorbei. Auch hier wurden alle Leitungen und Kabel geplündert. Während außen die die radioaktive Strahlung relativ hoch ist, ist sie innerhalb des Gebäudes nicht wesentlich höher als in Deutschland.
Neben dem Eingangsbereich befand sich eine Schulturnhalle mit einer Bühne. Eine Reihe morscher Klappstühle stehen noch mitten im Raum.
Im Obergeschoss befand sich ein Ballsaal. Dieser hatte einst bunt verzierte Wände. Über der Tür erinnert ein zerstörtes Fresko, welches einst das Wappen Belaruses in der UdSSR zeigte, an vergangene bessere Zeiten.
Der Holzboden im Gebäude ist morsch. Man muss bei jedem Schritt aufpassen, wo man hintritt. Glasampullen liegen am Boden. daneben liegen Kinderschuhe etwas verstreut herum.
Daneben liegt eine Gasmaske und weiterer nicht identifizierbarer Unrat.
Ein Raum ist voll mit am Boden verstreuten Dokumenten. Eine Liste, in der Buch geführt wurde über Anlieferungen liegt offen am Boden. Anhand der Einträge in den Dokumenten kann ich erkennen, dass das Gebäude erst 1989 verlassen wurde, also ganze drei Jahre nach dem Reaktorunglück im Kraftwerk Chernobyl.
Deneben liegen Schulbücher, so z. B. Buch: "W. i. Lenin: Die drohende Katastrophe uns wie man sie bekämpfen soll, Staatlicher Verlag der UDSSR, Minsk 1952)" Lenins Buch Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll (im russischen Original: Грозящая катастрофа и как с ней бороться) wurde 1917 während der politischen und wirtschaftlichen Krise in Russland geschrieben, nur wenige Wochen vor der Oktoberrevolution. In dieser Schrift analysiert Lenin die gravierende ökonomische und soziale Krise, die das Land damals erfasste, und präsentiert ein radikales Programm zur Bewältigung dieser Krise. Sein Ziel ist es, den bevorstehenden Zusammenbruch Russlands zu verhindern und die Macht der Arbeiterklasse zu stärken.
Nicht alle Gebäude sind vollständig verlassen. Am Rand der Ortschaft in einem Hinterhof grasen Kühe. Die Milch von hier möchte ich nicht unbedingt trinken.
Ich fahre Weiter. Auf Höhe des Dorfes Berezki steht ein Schild am Feldrand it der Aufschrift "Расвет" (Raswet), Übersetzt: (Morgen-)Dämmerung. Darüber die aufgehende Sonne aus dem Wappen der UdSSR und Hammer und Sichel.
Mein Geigerzähler schlägt Alarm. Vor mir ist gerade Maisernte, durch die Maschinen wird eine radioaktive Staubwolke aufgewirbelt. Ich versuche so gut es geht die Luft anzuhalten und fahre zügig an den Maschinen vorbei.
Ich erreiche die ehemalige Ortschaft Demyanki. Diese liegt am Fluss Iput und war die größte und reichste in der Region. Die Region wurde bereits in der Jungsteinzeit besiedelt. Im 16. Jahrhundert gehörte Demyanovichi zum Großfürstentum Litauen, später zur Polnisch-Litauischen Union und wurde schließlich 1772 von Russland erobert. Es gab hier alles was man für ein komfortables Leben brauchte: Zwei 1929 gegründete Kolchos "Molot" (zu Deutsch: Hammer) und "Pioneer" mit zwei Windmühlen, einer Ziegelei und einer Näherei. Zudem gab es eine Bäckerei, ein Gasthaus, eine weiterführende Schule, ein Haus der Kultur, eine Bibliothek, eine Poststelle, eine Brauerei, eine Sanitäts- und Entbindungsstation, eine Apotheke, einen Tierarzt und zwei Läden. In den 1970er Jahren lebten über 1000 Menschen in Demyanki. Man erkennt, dass es eine reiche Ortschaft war, da die meisten Häuser nicht aus Holz, sondern aus Ziegelsteinen erbaut wurden.
Während der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs von 1941 bis 1943 kamen in Demyanka sieben Zivilisten und 136 sowjetische Soldaten ums Leben. Diese wurden in einem Massengrab am westlichen Dorfrand beigesetzt, an die seit 1970 ein Denkmal erinnert.
Die Ortschaft wurde 1989, drei Jahre nach Chernobyl evakuiert. Doch etwa die Hälfte kehrten auf eigenes Risiko wieder zurück. 2004 lebten noch 38 Menschen in Demyanki. Erst 2009 wurde die Gemeindeverwaltung umgesiedelt. Heute gibt es noch zwei bewohnte Höfe. Das größte Anwesen in Demyanki war das im 19. Jahrhundert erbaute Fürstenhaus und Hauptquartier des Nikolai Nikolajewitsch (*1838 - †1929).
Nikolai Nikolajewitsch war Generalgouverneur von Finnland und stammte aus der Zarenfamilie Romanow. Das denkmalgeschützte Fürstenahus steht in der Mitte des Anwesens. Es besteht aus roten Ziegelsteinen und ist mit seinen vielen pompösen Ornamenten dem Neorussische Stil zuzuordnen. Wem dieser Baustil nichts sagt, ein klassisches Beispiel für den Neorussischen Stil ist das Historische Museum am Roten Platz in Moskau.
Das Gebäude befindet sich in einem schlechten Zustand. Die Fenster wurden zugemauert, um weiterem Vandalismus vorzubeugen. Dadurch entsteht im Haus eine gedämpfte dunkle Stimmung in den hohen dunklen Räumen. Das Dach ist bereits morsch, die Dachbalken ragen wie ein totes Gerippe in den Himmel und lassen etwas Licht hindurchschimmern.
Das 7 Ha große Anwesen wird von einer roten Ziegelmauer umfasst. Es beherbergte einen botanischen Garten mit vielen seltenen Pflanzenarten, welche man teilweise noch heute auf dem Grundstück finden kann. 1917 mit dem Sturz der Zarenfamilie und Machtübername durch die Bolschewiken flüchtete Nikolajewitsch ins Exil. Das Anwesen wurde verstaatlicht und als Sonderschule genutzt. Im Sommer wurde der Park als Sporterholungscamp genutzt.
Das Hauptgebäude ist von einem flachen Graben umgeben. Eine Ziegelbrücke bestehend aus vier Bögen stellte eine Verbindung zum Park her.
Es ist inzwischen Abend geworden. Ich suche mir einen Schlafplatz am Flussufer des Iput. Nach etwas Suche habe ich einen Schlafplatz direkt an der Abbruchkante des Flussufers gefunden, an dem die Strahlenbelastung mit 0,15 µS/h relativ gering ist.
Ich habe mit den verbleibenden Akkus meiner Drohne noch ein paar Luftaufnahmen vom Fluss Iput gemacht. Übrigens sind meine 360-Grad Fotos, welche ich mit meiner Drohne schieße, aus jeweils über 40 Einzelaufnahmen zusammengestzt.
Der Fluss Iput ist ein Seiternarm des Flusses Sosch. Die untergehende Abendsonne spiegelt sich im klaren Wasser und taucht die Landschaft in ein sattes, warmes Grün. Ganz am Horizont in etwa 10 km Entfernung kann ich die Bunker des geheimen Belarussischen Munitionslager "Dubetskoe" erahnen, welches versteckt in die Sperrzone auf die andere Seite des Flusses gebaut wurde. Ich traue mich nicht, näher hin zu fliegen, um keine Probleme zu bekommen. Die Basis "Dubetskoe" (auch bekannt als 43. Raketen- und Munitionsdepot) wurde 1986 als mögliches Endlager für Radioaktive Abfälle untersucht, der Untergrund war jedoch ungeeignet. Heute dient sie als eines der vier großen Munitionsdepots des Landes. Von hier aus wurde im Oktober 2022 die Russische Armee mit Waffen für den Ukrainekrieg versorgt. Die Basis liegt strategisch an einer Bahnstrecke an der Russischen Grenze und besitzt zwei Zufahrtswege. Einen von der Belarussischen und einen von der Russischen Seite aus.
Es ist wieder eine sternenklare Nacht. Der Vollmond scheint und taucht die Landschaft in ein mystisches Licht. Aufgrund der sehr geringen Lichtverschmutzung kann man die Milchstraße sehen. So viele Sterne sieht man in Deutschland nur selten am Himmel.
Ich wache noch vor Sonnenaufgang auf. Nebelschwaden ziehen über den Fluss. Es ist etwas frisch. Ich packe mein Zelt zusammen. In diesem Moment fährt ein Fischer aus Richtung Dobrusch kommend den Fluss hinauf und winkt mir freundlich zu. Ich frage mich, wann er wohl aufgestanden ist, denn Dobrusch ist etwa 17 km Luftlinie entfernt und ist gleichzeitig die nächstliegende Ortschaft außerhalb der Sperrzone und weitere 6 km flussaufwärts befindet sich bereits die russische Grenze.
Heute habe ich mit 60 km nur eine relativ kurze Strecke vor mir. Ich verlasse das Dorf Demyanki in Richtung Dobrusch. Am Ortsausgang komme ich am Friedhof vorbei.
Nach gut einer Stunde Fahrt verlasse ich die Sperrzone. Auf die Straße hat jemand "Стоп, зона!" (Stop, Zone!) mit Sprühfarbe gesprüht. Am Straßenrand stehen Schilder, die vor der Strahlung warnen. Mir kommt ein Bus entgegen, dieser fährt zwei Mal am Tag und verbindet die Ortschaft Dubovyi Log innerhalb der Sperrzone mit Dobrusch. Kurze Zeit später kommt mir wieder das Polizeiauto vom Vortag entgegen. Die zwei Polizisten kennen mich schon, sie heben kurz die Hand zur Begrüßung.
Ich blicke noch einmal zurück auf den Wald. Es fühlt sich gut an, wieder zurück in der Zivilisation zu sein. Nach einem Frühstück in Dobrusch und dem Auffüllen meiner Vorräte erreiche ich am Nachmittag Gomel, wo ich einen weiteren Lost Place erkundet habe – hier findest du mehr dazu. Mit jedem Kilometer, den ich zurücklege, lässt die Anspannung etwas nach. Doch meine Gedanken bleiben bei den Menschen, in deren Alltag es normal geworden ist, ständig dieser unsichtbaren Gefahr ausgesetzt zu sein und die Opfer einer Katastrophe wurden, die sie nicht verschuldet haben.
Interaktive Karte meiner genommenen Route:
Ich habe meine Fahrradroute und die besuchten Orte in Rot markiert.
Die Sperrzonen sind in Gelb umrandet.